Der Balkankrieg von Lineol

Lineol Figurenmuseum "Orthodoxer Pope" Lineol Standardserie

"Prolog:"

 

“Der Balkan ist mir nicht die gesunden Knochen eines einzigen pommerschen Grenadiers wert”, so Otto von Bismarck auf der Berliner Balkan-Konferenz von 1878.

Die Brandenburger Firma Lineol scheint das 35 Jahre später etwas anders gesehen zu haben. Eine außergewöhnlich bunte und Uniformkundig extrem detailliert recherchierte Serie der 8,5-9cm Serie belegt dies eindrucksvoll.

Es sei an dieser Stelle dem Leser erspart, einen historischen Abriss der beiden Balkankriege (1912- 1913) herunterzuleiern, den man auch anderswo bei Interesse nachlesen kann. An dieser Stelle nur so viel: Als der 1. Balkankrieg am 8. Oktober 1913 mit der Kriegserklärung Montenegros an die Hohe Pforte begann, sollte dies nicht nur die Weichen in den Ersten Weltkrieg stellen, sondern in Schockwellen bis heute nachwirken. Das Osmanische Reich verlor das Gros seiner europäischen Territorien und die Machtkonstellationen verschoben sich sehr zu Ungunsten der Mittelmächte.

Dass diese beiden Kriege um Unabhängigkeit und territorialen Zugewinn, vom gemeinsamen Kampf der Balkanvölker zum Leichenfleddernden Brudermord geriet, ist tragisch und macht klar, dass die Nachrichten vom Balkan jahrelang Zeitungen und Illustrierte füllten und Eltern wie Kindern geläufig waren. Wann genau Lineol die Serie anleierte, ist nicht geklärt, es dürfte aber aufgrund der einzelnen Figurenformen davon ausgegangen werden, dass die ersten Elemente bereits vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges in die Spielzeugläden kamen. Vielleicht nur knapp davor, aber immerhin.

 

Dass einige Protagonisten der Balkankriege im 1. Weltkrieg auch brauchbare “Feinde” abgaben, die man “verhauen” konnte, so die Werbetexte Lineols, macht klar, warum doch recht viele dieser farbenprächtigen Spielfiguren auf dem Markt landeten, wobei man wohl zwischen “Friedens-” und “Kriegsproduktion” nur insoweit mutmaßlich unterscheiden kann, so die zu verdreschenden Feinde im allgemeinen eher Gefechtsstellungen einnehmen oder in Reih und Glied marschieren. Auch die Uniformkunde gibt hier gelegentlich Aufschluss über den jeweils möglichen Entstehungs- und Vertriebszeitraum. Dass montenegrinische Figuren noch in einem Lineol-Katalog der 20er Jahre zu finden sind, mag erstaunen, es wird sich an diesem Punkt aber wohl lediglich um Restbestände gehandelt haben, die einerseits ab verkauft wurden, andererseits eine Vielfalt suggerieren sollten, die in der damaligen Realität so aber sicherlich nicht mehr den Tatsachen entsprach. Wer sich die Lineol-Figuren der 20er Jahre vor Augen hält, wird wohl ohnehin die bunten Balkantruppen nicht wirklich mit dieser Ära in Verbindung setzen.

"Montenegro"

 

Die mit Abstand bunteste Truppe im Balkan-Sortiment stellt das montenegrinische Heer dar. In den Balkankriegen keineswegs erfolglos, kämpfte die doch recht überschaubare Armee (mit ganzen zwei Geschützen bei Ausbruch des 1. Balkan-Konfliktes) im 1. Weltkrieg tapfer, wenn auch glücklos und auf verlorenem Posten gegen die übermächtigen Mittelmächte. Auch diese Figuren dürften aufgrund ihrer wohl farb-bedingen Popularität auch noch im 1. Weltkrieg hergestellt worden sein. In dieser Serie unterscheidet man zwischen Parade-Figuren und normalen Kampfposen. Während bei den Kampf- und Lazarettstellungen stets nur durch Bemalung und Einstecken eines “serbischen” Kopfes die Figur zum Montenegriner wurde, sind die Paradefiguren durchgehend eigenständig Entwürfe. Den lässig-dynamisch marschierenden Soldaten mit locker geschultertem Gewehr wurden sowohl spezielle Offiziere in Landestracht als auch ein entsprechender Fahnenträger hinzugesellt.

 

Montenegro Lineol 85mm

Montenegrinische Infanterie und Garde Offiziere - Figuren aus der Sammlung von Asko Schröder

Figurenmuseum Lineol Montenegrinische Infanterie - Figuren aus der Sammlung von Asko Schröder
Figurenmuseum Lineol Figurenmuseum LineolMontenegrinische Infanterie - Figuren aus der Sammlung von Asko Schröder
figurenmuseum Serbische Königsgarde Trompeter

"Serbien"

 

Figuren dieser Nation sind bei Lineol extrem gut aufgestellt, wurden doch die Uniformen der Balkankriege auch noch während des Ersten Weltkrieges weiter produziert, ohne Rücksicht auf den radikalen Wandel in der Uniformierung. Serbien stellt verhältnismäßig wohl die meisten der heute verfügbaren Lineol-Balkan-Truppen. Eigentlich kein Wunder, hiess es 1914 doch reißerisch an deutschen Stammtischen “Serbien muss sterbien”. Dass das kleine Land dann doch recht lange den Mittelmächten widerstand, mag den Verkaufserfolg zumindest teilweise erklären. Vielleicht lag es auch an den blauen Uniformen, die sich neben feldgrauen Deutschen und hechtgrauen Österreichern nicht verstecken mussten. Patrioten-Pathos hin oder her...Bunt ist Kindern meistens lieber.

Figurenmuseum Lineol Serbische Königsgarde zu Pferd angreifend mit Säbel Sammlung A. Schröder
Serbische Infanterie 1912-1920

Neben den recht häufigen Infanteristen, die in unterschiedlichen Qualitäten daherkommen gibt es auch ausgesprochene Raritäten, denen hier etwas mehr Raum gegönnt werden soll.

Einerseits tummelt sich da die serbische Linienkavallerie, mit auffallend roten Hosen und der serbischen blau-weiß-roten Trikolore als Lanzenwimpel. Während Mannschaften braune

Uniformröcke tragen, erkennt man Offiziere unschwer an ihren hellblauen Jacken. Flache, graue Mützen stellen die große Gemeinsamkeit aller Waffengattungen dar.

 

Die absolute Krönung des serbischen Sortiments stellt die serbische Königsgarde dar, ebenfalls mit roten Beinkleidern, apfelgrüner Husarenjacke und den typischen grauen Mützen. Es handelt sich hier um absolute Raritäten, die ganz eindeutig in die Zeit der Balkankriege zu verorten sind, sowohl  uniformkundlich als auch vom Produktionszeitraum her. Die Art der Bemalung lässt unschwer auf  recht frühe 8,5 cm Figuren schließen.

 

Serbische Linien Kavallerie Offizier mit gefallenem Pferd 1913-1915 Sammlung A. Schröder
figurenmuseum Lineol Serbische Linien Kavallerie 1913-1915 Sammlung A. Schröder
Figurenmuseum Lineol Tuerkische Infanterie 1912-1918 Sammlung A. Schröder
Figurenmuseum Osmanen Tuerkische Infanterie 1912-1918 Sammlung A. Schröder

"Osmanisches Reich"

 

Als historischer Verlierer des Italienisch-türkischen Krieges um Libyen und des Ersten Balkankrieges (teilweise territorial Rückeroberungen im Zuge des 2. Balkankrieges) durfte das Osmanische Reich in dieser Lineol-Kollektion natürlich nicht fehlen. Neben den bekannten preussisch-dunkelblau uniformerten Soldaten mit rotem Fez und den bereits im Libyen-Kapitel vorgestellten albanischen Linien-Infanteristen stellte Lineol auch türkische Kavallerie her. Die Grundform entspricht den preußischen Ulanen, mit rotem Ulanka-Bruststück, allerdings mit Kosakenkopf. Derlei Exemplare entsprechen in nahezu allen Details den damaligen osmanischen Kavallerie-Einheiten, wie sie im Balkankrieg zum Einsatz kamen. Diese Modelle sind extrem selten. Die Lanzenspitze wird von einem

roten Wimpel mit aufgemaltem weißem Halbmond geziert.

Figurenmuseum Lineol Everzonen von Lineol 85 mm

"Griechenland"

 

Die einzigen bekannten Griechen der Balkanserie werden von marschierenden Evzonen in traditioneller Uniform gestellt. Im weißer Tracht, mit locker geschultertem Gewehr, den erstaunlichen rockartigen Beinkleidern, den mit schwarzen Bommeln geschmückten weißen Pantoffel und die an einen flachen Fez erinnernde Kopfbedeckung mit beeindruckender schwarzer Quaste sind sehr selten zu finden, besonders in gutem Zustand. Die Details der Kopfbedeckung sind zerbrechlich, die Farbe anfällig. Da diese isolierten Marschierer als vollwertige Armee wenig Sinn machen auf dem kindlichen Schlachtfeld, muss man wohl eher an ein anderes Konzept denken: Geschenk-Kartons mit Balkan-Staaten-Sortiment, in denen die Griechen nur eine unter mehreren verschiedenen Nationen darstellen. Wer sich die Spielsets der frühen Lineol-Serien anschaut (man beachte das berühmte Ensemble mit kämpfenden Japanern und unbekannten Gegnern) kommt schnell auf den Gedanken, dass es sich hier sehr wohl um Elemente solch heterogener Verkaufskonzepte handeln könnte. Einmalige Einzelstücke sind im Lineol-Sortiment eher selten (die Regel wird durch Ausnahmen des berühmten Mexikaners bestätigt), so dass die Geschenk-Karton- Hypothese an Gewicht gewinnt. Auch wenn Griechenland auch am 1. WK teilnahm, spielte das Land in diesem Zusammenhang in deutschen Kinderzimmern keine Rolle. Die Zuordnung “Balkankriege” ist also recht offensichtlich.

Figurenmuseum Lineol Rumänische Infanterie 1914-1918

"Rumänien"

Rumänien, das sich im Ersten Weltkrieg an der Seite der Entente tummelte und schließlich von den überlegenen Mittelmächten militärisch besiegt und besetzt wurde, hat gleich zweifach Eintritt in die Lineol-Kollektion gefunden: Als Teilnehmer an den Balkankriegen und als deutscher Kriegsgegner im 1. Weltkrieg. Die Uniformen in den beiden Fällen unterscheiden sich signifikant. Während das helle Erdbraun der Uniform in den “Großen Krieg” gehört, finden sich vereinzelt für Uniform-Laien nur schwer zu verortbare Soldaten, die in Braun, Blau und mit badisch anmutendem schwarzen Tschako für Rumänien in den Krieg ziehen. Ein präsentables Belegstück steht hier leider nicht zur Verfügung aber  Kampf- und Lazarett-Posen lassen eine breitere Aufstellung des Sortiments vermuten.

 

Figurenmuseum Lineol Bulgarische Infanterie 1913-1914 Bulgarische Infanterie 1913-1914

"Bulgarien"

Das bulgarische Königshaus war der Bevölkerung des Deutschen Reiches aufgrund der dynastischen Verbindungen nach Deutschland bekannt und die Ausführungen der Bulgaren sind besonders detailliert und uniformkundig extrem gut recherchiert. Militärisch glücklos und nach dem 2. Balkankrieg von seinen Gegnern in die Ausgangsstellung zurückgedrängt, nahm das Land auf Seiten der Mittelmächte auch am Ersten Weltkrieg teil, es gibt jedoch bei Lineol-Figuren nicht unerhebliche Uniform-Unterschiede gegenüber der Balkan-Serie, die von Sammlern von Figuren dieser Produktionsperiode oft mit Russen verwechselt werden. Infanterie und Artillerie sind bekannt, andere Waffengattungen nicht auszuschließen.

Figurenmuseum Lineol Bulgarische Artillerie 1913-1914
Figurenmuseum Lineol "Orthodoxer Pope" Lineol Standardserie

"Epilog"

 

Zu den weiteren Sonderfiguren des serbisch-montenegrinischen Sortiments gehört ohne Zweifel der orthodoxe Pope, der laut Lineol-Katalog zur Lazarett-Gruppe gehört. Die Figur, so selten sie in gutem Zustand ist, gibt es in mehreren mehr oder weniger aufwändigen Bemalvarianten, die Armbinde mit dem roten Kreuz ist bei allen eine Konstante. Persönlichkeitsfiguren?

Es ist denkbar, dass vereinzelte Figuren des Balkansortiments nicht unbedingt “nur” Offiziere, Generale und Adjutanten darstellen, sondern durchaus die gekrönten Häupter des Konfliktes. Wer sich den doch recht beleibten Offizier mit Backenbart aus der Montenegriner-Serie genau anschaut, erkennt die nicht zu leugnende Ähnlichkeiten mit König Nikola von Montenegro. Bei anderen Figuren

ist das ähnlich. Karl 1. oder Ferdinand 1. von Rumänien oder Zar Ferdinand 1. von Bulgarien sind gegebenenfalls plausible Kandidaten, es gibt Figuren, denen gewisse Ähnlichkeiten mit bekannten Persönlichkeiten nicht abzusprechen sind. Das mag zwar dennoch Spekulation bleiben, denn Lineol- Archivalien zu dem Thema sind nicht bekannt. Aber irgendwie macht diese “Unbekannte” in der Thematik der Massefiguren doch einen Teil des Sammler-Anreizes aus. Spekulieren, recherchieren, stöbern...des Sammlers täglich Brot.

 

Das Unbekannte übt nun einmal eine ganz besondere Anziehungskraft aus....auch, wenn man Konstantin 1. Von Griechenland und Peter 1. Von Serbien nicht unbedingt eindeutig aufgrund bekannter zeitgenössischer Portraits gewissen potenziellen Persönlichkeitsfiguren zuordnen kann, mögen sie doch irgendwo anonym auf ihre “Entdeckung” warten.

Asko Schröder © figurenmuseum 2021

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© Ulrich Becker